Trauma und Psyche verstehen.
Trauma ist ein äußerst belastendes Ereignis, das die betroffene Person nicht adäquat verarbeiten kann und langfristige seelische Auswirkungen hat. Der Begriff wurde lange Zeit in der klassischen Therapie nicht eindeutig definiert, was zu seiner oft zu lockeren Verwendung führte. Peter Levine beschreibt Trauma treffend als: „Es ist zu viel, zu schnell, zu plötzlich!“
Was muss einem Menschen passiert sein, damit etwas als Trauma definiert werden kann?
Ob etwas als Trauma erlebt wird, hängt stark von der individuellen Wahrnehmung und den persönlichen Umständen ab. Erfahrungen, die für eine Person furchtbar sind, können für eine andere weniger belastend sein. Dies hängt vom inneren Zustand, den Lebensumständen und der Regulationsfähigkeit des Nervensystems ab. Menschen reagieren unterschiedlich auf traumatische Ereignisse, wobei wesentliche Einflussfaktoren die aktuellen Lebensumstände, das familiäre Umfeld, das Vertrauen zu Bezugspersonen und die eigenen Ressourcen zur Stressbewältigung sind.
Biologische und psychologische Komponenten eines Traumas
Biologische Aspekte:
Neuronale Veränderungen: Ein Trauma kann die Struktur und Funktion des Gehirns verändern, insbesondere in Bereichen wie dem Hippocampus, der Amygdala und dem präfrontalen Kortex.
Hormonelle Reaktionen: Chronischer Stress durch Trauma kann das endokrine System beeinflussen, was zu einer ständigen Überproduktion von Stresshormonen wie Cortisol führt.
Psychologische Auswirkungen:
Emotionale Reaktionen: Angst, Depression, Schuldgefühle und Scham sind häufige emotionale Reaktionen auf ein Trauma.
Verhaltensweisen: Rückzug, Vermeidungsverhalten, Reizbarkeit und Aggressivität können auftreten.
Kognitive Veränderungen: Schwierigkeiten bei der Konzentration, Flashbacks und intrusive Gedanken sind typisch.
Trauma in verschiedenen Lebensphasen
Frühe Kindheit: Entwicklungsverzögerungen, Bindungsstörungen, Verhaltensprobleme.
Adoleszenz: Risikoverhalten, Identitätsprobleme, Schwierigkeiten in Schule und sozialen Beziehungen.
Erwachsenenalter: Beziehungsprobleme, berufliche Schwierigkeiten, Gesundheitsprobleme.
Trauma als Ungleichgewicht im Nervensystem
Ein Trauma entsteht, wenn eine Person bedrohlichen und überwältigenden Erfahrungen ausgesetzt ist, die so viel Stress auslösen, dass dieser nicht mehr mit den üblichen Bewältigungsmechanismen verarbeitet werden kann. Daniel Siegels Stress-Toleranz-Fenster veranschaulicht, wie unser Nervensystem im natürlichen Zustand funktioniert und was bei traumatischen Erfahrungen passiert.
Im natürlichen Zustand pendelt das menschliche Nervensystem zwischen Aktivierung und Entspannung. Wir reagieren angemessen auf Stressoren und kehren danach in einen regenerierenden Zustand zurück. Bei traumatischen Erfahrungen bereitet unser Nervensystem uns durch Übererregung auf Flucht oder Kampf vor.
Dies zeigt sich im Körper durch:
Stimulation des Sympathikus
Ausschüttung von Adrenalin
Anspannung der Muskulatur
Beschleunigung der Herzfrequenz
Erhöhung des Blutdrucks und der Atemfrequenz
Vermehrtes Schwitzen
Gelingt es, die Gefahr abzuwenden, reguliert sich das Nervensystem und es entsteht ein Gefühl der Sicherheit. Problematisch wird es, wenn die Übererregung zum Dauerzustand wird. Dies ist der Fall bei Entwicklungstraumata, wenn chronische Zustände von Ohnmacht oder Ausgeliefertsein empfunden werden und klassische Flucht- und Kampfmechanismen keine Lösung bieten.
Definition Trauma nach der IoPT (Identitätsorientierten Psychotraumtheorie)
Nach der IoPT gibt es Schlüsselworte, die ein Trauma definieren:
Überwältigung: Die Situation wird als vollkommen unkontrollierbar erlebt.
Hilflosigkeit: Es wird äußerste Ohnmacht empfunden.
Lebensbedrohung: Es besteht die Befürchtung, die Situation möglicherweise nicht zu überleben.
Spaltung: Wenn Flucht oder Kampf die Situation nicht lösen, spaltet die Psyche die verheerende Erfahrung ab und gibt im Extremfall den Bezug zum eigenen Ich auf.
Jedes Ereignis, das diese Kriterien erfüllt, ist ein Trauma. Als Traumatherapeutin benutze ich das Wort „Opfer“, denn in der Situation des Traumas sind wir Opfer.
Eine Situation wird dann zum Trauma, wenn unsere Ressourcen zur Stressbewältigung versagen
Aktivierung aller körperlichen Ressourcen
Ausschüttung von Stresshormonen
Herzrasen
Plötzlich verfügbare ungeheure Mengen an Energie
Stärkere Aktivierung bei größerem Stress
Diese Prozesse ermöglichen notwendige Handlungen wie Angriff oder Flucht (Fight or Flight).
Unser Organismus kann einen derart aktivierten Zustand nur kurzfristig aushalten, sonst wäre es lebensgefährlich – das Herz würde versagen. Um uns vor Herzversagen zu schützen, schaltet das psychosomatische System plötzlich auf einen Zustand extrem geringer Aktivität um. Schockstarre (Erstarrung) ist eine Trauma-Notfallreaktion (Freeze).
Starker Stress oder Trauma: Was ist der Unterschied?
Eine Situation wird traumatisch, wenn unsere Ressourcen zur Stressbewältigung versagen. Stress bewältigen wir durch die Aktivierung unserer körperlichen Reserven. Dabei werden Stresshormone ausgeschüttet, unser Herz rast und es steht plötzlich viel Energie zur Verfügung. Das erklärt die erstaunliche Kraft, die Menschen in solchen Momenten entwickeln können.
Je größer der Stress, desto stärker die Aktivierung, um notwendige Handlungen wie Angriff oder Flucht zu ermöglichen.
Unser Körper kann diesen Zustand nur kurz aushalten, sonst wäre es lebensgefährlich – unser Herz würde versagen. Um uns zu schützen, schaltet das System auf einen Zustand extrem geringer Aktivität um, genannt „tonische Immobilität“ oder „Schockstarre“. Das ist eine Trauma-Notfallreaktion.
Im überaktivierten Stresszustand können wir angreifen oder fliehen. Diese Reaktionen erfordern viel Kraft, und wir können nicht beides gleichzeitig tun.
Im unteraktivierten traumatisierten Zustand sind wir hilflos. Körper und Psyche kollabieren, Funktionen wie Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Sprechen setzen aus. Wir ergeben uns dem Schicksal.
Der letzte Überlebensversuch besteht darin, Kräfte ins Körperzentrum zurückzuziehen, damit lebenswichtige Organe wie Gehirn, Herz und Lunge weiter funktionieren. In dieser Situation geht es ums Überleben, und alle Kräfte konzentrieren sich darauf, die Bedrohung zu überstehen. Diese Reaktionen nennt man „freeze and fragment“ (erstarren und abspalten). Das Erstarren ist die tonische Immobilität, das Abspalten verdrängt die unerträgliche Realität ins Unbewusste.
Fazit
Trauma betrifft uns alle – Dich, mich und viele Menschen in unserer Umgebung. Es ist ein Thema, das jeden von uns in irgendeiner Weise berühren kann. Die tiefgreifenden Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen sind oft überwältigend.
Ein Trauma entsteht, wenn unsere Ressourcen zur Stressbewältigung versagen. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf belastende Ereignisse, und es gibt keine „richtige“ oder „falsche“ Art, damit umzugehen. Du bist nicht allein in Deinen Erfahrungen, und es ist wichtig zu verstehen, dass Dein Erleben und Deine Reaktionen gültig und normal sind.
Die Erkenntnisse aus der Traumaforschung, wie das Stress-Toleranz-Fenster von Daniel Siegel und die Identitätsorientierte Psychotraumtheorie (IoPT), bieten wertvolle Einblicke in die Mechanismen und Auswirkungen von Trauma. Diese Modelle helfen uns zu verstehen, warum unser Nervensystem auf bestimmte Weise reagiert und wie wir diese Reaktionen besser bewältigen können.
Durch gezielte therapeutische Ansätze, die sowohl körperliche als auch psychische Aspekte berücksichtigen, kannst Du lernen, Deine traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und ein Gefühl der Sicherheit und Kontrolle wiederzuerlangen. Methoden wie EMDR, körperorientierte Therapien, Anliegenmethode und Hypnotherapie bieten vielfältige Wege zur Heilung und Integration.
Es ist an der Zeit, Trauma zu entmystifizieren und die Angst davor zu nehmen. Heilung ist möglich, und Du kannst diesen Weg gehen. Mit dem richtigen Wissen, Unterstützung und den geeigneten therapeutischen Methoden können traumatische Erlebnisse bewältigt werden. Du kannst wieder ein erfülltes Leben führen und trotz der erlittenen Verletzungen neue Stärke und Resilienz entwickeln. Gemeinsam können wir das Verständnis und die Akzeptanz für Trauma fördern und den Weg zur Heilung ebnen. Du bist nicht allein.
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