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Einsamkeit als Kern traumatischer Erfahrung

Aktualisiert: 20. Juli

Ein oft übersehener Schmerz

„Ich war damals nicht allein – aber ich habe mich nie einsamer gefühlt.“

Diesen Satz höre ich in meiner Praxis oft – ausgesprochen von Menschen, die schwere Erfahrungen gemacht haben: Gewalt, Vernachlässigung, emotionale Kälte. Was bleibt, ist ein Gefühl tiefer Isolation, das weit über den Moment hinausreicht. Eine Einsamkeit, die nicht durch äussere Umstände entsteht, sondern durch einen inneren Zustand: das Gefühl, mit dem eigenen Erleben ganz allein zu sein.


In meiner therapeutischen Arbeit bin ich immer wieder mit diesem Thema konfrontiert. Fast alle meiner Klient:innen – ob mit Gewalt-, Bindungs- oder Entwicklungstrauma – kommen im Laufe der Therapie an diesen Punkt: den Punkt, an dem sie die Einsamkeit benennen. Oft geschieht das spät. Wenn alle Schutzschichten ein Stück weichen. Wenn das Fühlen wieder möglich wird.


Einsamkeit – mehr als soziale Isolation

Wenn wir über Einsamkeit sprechen, denken viele zuerst an das Fehlen sozialer Kontakte: keine Freunde, kein Netzwerk, niemand zum Reden. Doch das, was viele traumatisierte Menschen schildern, ist eine existenzielle Einsamkeit.

Sie hat wenig mit äußeren Umständen zu tun und viel mit einer tiefen inneren Erfahrung von Verlassenheit:

„Ich war zwar inmitten von Menschen – aber niemand hat mich gesehen.“„Ich habe geschrien – innerlich – aber es hat keiner gehört.“„Ich konnte nicht mehr fühlen, weil es zu wehgetan hätte.“

Diese Aussagen stammen aus Gesprächen mit Menschen, die Gewalt, emotionale Vernachlässigung oder haltlose Beziehungen erlebt haben. Gemeinsam ist ihnen ein inneres Erleben: eine absolute Einsamkeit im Schmerz.


Wie fühlt sich Einsamkeit nach Trauma an
Nicht das Offensichtliche verletzt – sondern das Dauerhafte-Nicht-Gemeintsein

In meiner Arbeit mit Menschen, die frühe Beziehungstraumata erlebt haben, fällt mir immer wieder auf: Es sind nicht unbedingt die klaren Zurückweisungen, die die tiefsten Wunden hinterlassen. Oft ist es das Leise, das Wiederholte, das scheinbar Normale: das ständige Nicht-Gesehen- und Nicht-Verstandenwerden.


Diese subtilen Lücken in der emotionalen Resonanz führen zu einer Form von Einsamkeit, die sich nicht wie Isolation anfühlt, sondern wie inneres Fremdsein in der Welt.

Eine Einsamkeit, die oft erst viel später im Leben ins Bewusstsein tritt.

Trauma ist nicht immer laut – Verlassenheit beginnt oft im Kleinen

Wir neigen dazu, Trauma mit dramatischen Ereignissen zu verbinden: Missbrauch, Gewalt, Krieg, Verlust. Doch das, was wir heute oft als „kleines t“-Trauma oder Mikrotrauma bezeichnen, ist in seiner Wirkung keineswegs klein.

Es sind genau diese alltäglichen, scheinbar harmlosen Erfahrungen, die sich tief ins Erleben einschreiben:

  • Ein Kind, das immer wieder übergangen wird, wenn es traurig ist

  • Ein Teenager, dessen emotionale Not ignoriert oder bagatellisiert wird

  • Ein Erwachsener, der in einer Beziehung lebt, in der Nähe nie sicher war


Solche Erfahrungen sind nicht spektakulär – aber sie prägen zutiefst. Sie vollziehen sich leise, wiederholt, bindungsbezogen – und erzeugen dieselbe Form von Einsamkeit wie große Traumata:

Das Gefühl, allein mit dem zu sein, was ich erlebe.

Einsamkeit ist nicht die Folge eines Ereignisses – sondern einer Erfahrung von Nicht-Verbundenheit

Ob jemand eine Erfahrung als traumatisch empfindet, hängt nicht allein von deren objektiver Schwere ab. Entscheidend ist:

War da jemand? Hat jemand gesehen, gespürt, gehalten?

Wer sich in Not befindet und niemanden erlebt, der zuhört, mitschwingt oder einfach bleibt – der erfährt Einsamkeit. Und diese Einsamkeit wird gespeichert. Oft über Jahrzehnte hinweg – im Körper, in Beziehungsmustern, im Nervensystem, in einem chronischen Gefühl von Unsicherheit.



Ergänzende Perspektive: Einsamkeit als Symptom von Trauma

Die Traumaexpertin Dami Charf beschreibt Einsamkeit als eines der schmerzhaftesten Gefühle überhaupt.Sie unterscheidet deutlich zwischen Einsamkeit und Alleinsein – und betont, dass viele Menschen sich gerade in Gesellschaft besonders einsam fühlen. Das entscheidende Element: fehlende emotionale Resonanz.

„Einsamkeit ist ein Zustand der Unverbundenheit, den man (zu dieser Zeit) nicht auflösen kann.“

Besonders eindrücklich beschreibt sie, wie sich Einsamkeit aus früher emotionaler Resignation entwickelt: Babys, die immer wieder auf ihre Bezugspersonen warten und nicht beruhigt werden, geben irgendwann auf. Sie schreien nicht mehr – nicht, weil sie gelernt haben zu schlafen, sondern weil sie resigniert haben. Dieses Stillwerden bleibt oft – und wird später zu innerer Isolation.

Charf verweist auch auf einen gesellschaftlichen Faktor: Die Fähigkeit, soziale Bindungen aufzubauen, wird heute weniger selbstverständlich entwickelt. Kinder verbringen weniger unbeaufsichtigte Zeit mit anderen Kindern, lernen weniger, wie man Kontakte knüpft – soziale Grundfähigkeiten verkümmern.

Auch darin wurzelt Einsamkeit:In der Unsicherheit, wie man sich zeigt, wie man Nähe zulässt – oder überhaupt den Mut findet, sich zu verbinden.


Wie sich Einsamkeit körperlich auswirkt

Einsamkeit ist nicht nur ein seelisches Empfinden – sie wirkt direkt auf das Nervensystem und den Körper. Wer sich über längere Zeit einsam fühlt, lebt in einem Zustand erhöhter innerer Alarmbereitschaft: Das Stresssystem bleibt aktiviert, auch wenn objektiv keine Gefahr besteht.

Studien zeigen, dass chronische Einsamkeit zu einer Vielzahl von Symptomen führen kann:

  • Schlafstörungen

  • anhaltende Erschöpfung

  • geschwächtes Immunsystem

  • erhöhte Entzündungsreaktionen

  • depressive Verstimmung oder Angstzustände

  • psychosomatische Beschwerden (z. B. Herzrasen, Beklemmung, Unruhe)


Diese Symptome sind kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck eines Körpers, der versucht, sich an ein Leben ohne sichere Verbundenheit anzupassen.


Was in der Therapie hilft

In der therapeutischen Begleitung steht nicht immer das „Lösen“ der Einsamkeit im Vordergrund. Viel häufiger geht es zunächst darum, dass sie überhaupt wahrgenommen und ausgesprochen werden darf – in einem Raum, in dem niemand urteilt und niemand geht.

Was in diesem Prozess hilfreich ist:

  • Das gemeinsame Aushalten und Benennen von Einsamkeit

  • Das Erleben von Resonanz und emotionaler Präsenz

  • Neue Erfahrungen von Beziehung – ohne Leistungsdruck

  • Die Rückbindung an den eigenen Körper, an die eigene Geschichte

  • Ein wachsendes Gefühl von Selbst-Mitgefühl und innerem Halt


Heilung bedeutet nicht, dass die Einsamkeit nie wiederkehrt. Aber sie wird weniger bedrohlich, weniger absolut – und das Erleben von Verbindung wird wieder möglich.


Fazit

Tiefe Einsamkeit entsteht nicht aus einem Mangel an Menschen, sondern aus dem Erleben, nicht wirklich gemeint, nicht wirklich gehalten worden zu sein. Sie ist oft die unsichtbare Wunde hinter dem Trauma – und prägt sich tief in unser Erleben ein.

Erst wenn diese Wunde Raum bekommt, wenn jemand bleibt, mitschwingt und nicht zurückschreckt, kann sich langsam etwas verändern. Verbindung heilt nicht alles – aber sie macht das Alleinsein erträglich. Und oft ist das der erste Schritt.



Was sagen Fachpersonen über Einsamkeit und Trauma?

1. Bindungs- und Entwicklungstrauma – Der stille Ursprung von Einsamkeit

Franz Ruppert „Verlassenheits- und Einsamkeitsgefühle sind zentrale Merkmale traumatisierter psychischer Anteile.“

Alice Miller „Viele brillante Menschen tragen ein inneres Gefängnis – sie spüren, dass ihre Persönlichkeit nie wirklich gehört wurde.“

Julia Belke „Einsamkeit ist ein Symptom früher traumatischer Erfahrungen – oft unbewusst, aber tief wirksam.“

Shauna Springer & Grant H. Brenner „Ohne sichere Bindung fehlt das Gerüst für gesunde Beziehungen – das führt zu Rückzug, Misstrauen und Isolation.“

2. Psychisches Trauma und die tiefe Isolation der Seele

Christine A. Courtois „Viele Überlebende von Beziehungstrauma kämpfen mit Entfremdung, Misstrauen, geringem Selbstwert, Einsamkeit, Scham …“

Richard Nicastro „Trauma ist von Natur aus beschämend und isolierend. Die daraus entstehende Einsamkeit schützt – auf Kosten echter Nähe.“

Luise Reddemann (sinngemäß) Chronisch Traumatisierte erleben Rückzug, Fragmentierung und innere Isolation als Schutz – PITT bietet neue Beziehungserfahrungen.

Christine Knaevelsrud (sinngemäß) Trauma erschüttert nicht nur das Sicherheitsgefühl – es beschädigt auch die Fähigkeit zu Beziehung und Verbindung.

3. Nervensystem & Neurobiologie – Wenn der Körper Verbindung vermeidet

Stephen Porges „Wenn Menschen sich chronisch unsicher fühlen, erleben sie soziale Situationen nicht als Chance zur Verbindung – sondern als Bedrohung.“

→ Die Polyvagal-Theorie zeigt: Einsamkeit ist oft Ausdruck eines Schutzmodus, nicht eines sozialen Mangels.

4. Kollektives Trauma & die soziale Dimension der Einsamkeit

Richard Mollica „Geflüchtete berichten weniger von der Gewalt – sondern von der entmenschlichenden Einsamkeit danach.“

Jonathan Shay „Die schlimmste Folge von Trauma ist nicht das Ereignis – sondern das Gefühl, damit allein zu sein.“

5. Einsamkeit als Wendepunkt – Raum für Wachstum

Gabor Maté„ Trauma ist das, was in dir passiert, wenn du mit deinem Schmerz allein gelassen wirst.“

Richard Tedeschi „Nach dem tiefsten Rückzug folgt das stärkste Wachstum. Einsamkeit kann zur Quelle innerer Transformation werden.“

Hinweis:

Diese Zitate stammen aus Fachliteratur, klinischer Praxis und Forschung. Sie machen deutlich, dass Einsamkeit nicht nur Begleiterscheinung, sondern oft Kernstück traumatischer Erfahrung ist – und zugleich Schlüsselstelle für Heilung und Entwicklung.




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